„Meine Türe steht offen“: Landrätin Sabine Sitter an der Eingangspforte des Landratsamts in Karlstadt.
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„Wir sind an einem Punkt höchster Belastung angelangt“
Seit zweieinhalb Jahren ist Landrätin Sabine Sitter im Amt. In dieser Zeit sah sich der Landkreis mehreren großen Krisen gegenüber – es gab so viel zu tun wie noch nie zuvor. Was das für die tägliche Arbeit der Landrätin bedeutet, warum die Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger dabei so wichtig ist und was sie ihren Kritikern entgegnet, erklärt sie im Interview.
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„Wir sind an einem Punkt höchster Belastung angelangt“
Seit zweieinhalb Jahren ist Landrätin Sabine Sitter im Amt. In dieser Zeit sah sich der Landkreis mehreren großen Krisen gegenüber – es gab so viel zu tun wie noch nie zuvor. Was das für die tägliche Arbeit der Landrätin bedeutet, warum die Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger dabei so wichtig ist und was sie ihren Kritikern entgegnet, erklärt sie im Interview.
Frau Sitter, ab wann sind Sie im Büro? Sabine Sitter: Heute war ich kurz vor 9 Uhr im Büro. Vor 8.30 Uhr schaffe ich es selten. Denn ich habe zwei Kinder, die in die Schule gehen. Erst wenn zu Hause alles erledigt ist, fahre ich los. Im Landratsamt angekommen, fällt mein erster Blick auf die aktuellen Akten auf dem Tisch. Anschließend lasse ich mich von meinem Vorzimmer auf den neuesten Stand bringen. Dann stürze ich mich in die Arbeit. Bevor ich abends das Büro verlasse, pflege ich ein Ritual, um mich vom Arbeitstag zu verabschieden. Denn sobald die Tür hinter mir ins Schloss fällt, lasse ich auch das Amt hinter mir und bin wieder Mutter und Familienmensch. Ich erledige Dinge am besten mit 100 Prozent Aufmerksamkeit. Nur so kann ich auch 100 Prozent Leistung bringen. Was ist Ihr wichtigstes Büroutensil? Notizzettel. An etliche Schreiben hefte ich ein Papier mit handschriftlicher Notiz. Das schafft eine persönliche Nähe und Wärme – als Ergänzung zu den manchmal kühlen Amtsschreiben, die meinen Schreibtisch verlassen. Wann sind Sie zum ersten Mal mit Politik in Berührung gekommen? Schon im Kindesalter. Mein Vater war Gemeinderat und Bürgermeister in unserem Heimatort Gräfendorf. Ich durfte ihn oft in die Amtsstube begleiten. Wenn mir langweilig war, habe ich Zeitungsseiten geordnet oder das Unterschreiben geübt. Als Kind gefiel mir die Vorstellung, später einmal viel zu unterschreiben, genau wie mein Vater. Das hat ja auch geklappt.
Wurde damals auch ihre politische Leidenschaft geweckt? Nein, das erfolgte später durch meine Erfahrungen und Einblicke während des Studiums der Sozialen Arbeit. Ich kam mit vielen Menschen in schwierigen Lebenssituationen in Berührung und das machte mich von Beginn an betroffen. Seitdem werde ich angetrieben vom Wunsch, Gleichheit zu schaffen – was die Chancen angeht, die man im Leben haben sollte, aber auch in der Behandlung, die man im Umgang miteinander erwarten darf. Maßstab ist für mich das Grundgesetz. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, das gilt für jeden Menschen. Die Auseinandersetzung mit unserer Verfassung lege ich jedem immer wieder ans Herz.
Seit meinem Amtsantritt war ich mehr als nur Landrätin.
Von Kritikern ist zu hören, dass Sie sich zu wenig in der Öffentlichkeit blicken lassen. Was entgegnen Sie ihnen? Ich habe Verständnis dafür. Denn man muss als Landrätin Gesicht zeigen, das stimmt. Und das kam in den vergangenen zweieinhalb Jahren zu kurz. Ich möchte aber auch zu bedenken geben, dass ich seit meinem Amtsantritt mehr war als nur Landrätin. Wir haben nie dagewesene Krisen zu bewältigen, die mich unentwegt forderten und weiterhin fordern. Die Corona-Regeln erlaubten es mir lange Zeit nicht, öffentlich präsent zu sein, weil wir Zurückhaltung üben sollten. Und tatsächlich hatte ich dafür auch kaum Zeit, weil ich mit so vielen anderen Dingen beschäftigt war, die hinter den Kulissen abliefen. Was man manchmal vergisst: Eine Landrätin ist nicht nur eine kommunale Politikerin. Ich muss eine Behörde leiten, auf die mehr staatliche Aufgaben einprasseln als jemals zuvor. Davon kriegt man vor der Türe des Landratsamts aber nur wenig mit. Hinzu kommt eine ganze Reihe weiterer Aufgaben, die ich ernst nehme und die mich über das Amt hinaus fordern. Welche Aufgaben zum Beispiel? Neben meinem Amt als Landrätin bin ich Vorsitzende in vielen Organisationen, unter anderem im Naturpark Spessart, dem Verwaltungsrat der Sparkasse, dem Klinikum, der Region Mainfranken, dem Kreisverband der Obst- und Gartenbauvereine und der Otto und Anna Herold-Altersheim-Stiftung. Auch dort müssen Entscheidungen getroffen werden. Das Amt bietet eine ungeheure Vielfalt, aber auch eine Vielzahl an Pflichten. Mein Tag hat aber nur 24 Stunden, und diese will ich möglichst sinnvoll gestalten. Ich nutze meine Hände daher lieber zum Anpacken als zum Schütteln anderer Hände. Auch ihre Mitarbeiter haben gut zu tun. Wo endet deren Leistungsfähigkeit? In den letzten Jahren hat der Bund viele Aufgaben an die Gemeinden und Landkreise übertragen. Diese Entwicklung ist grundsätzlich positiv, da sie die kommunale Eigenverantwortlichkeit fördert. Das Problem ist, dass wir Beschlüsse immer häufiger in kurzer Zeit umzusetzen haben, wie aktuell das Wohngeld oder das Bürgergeld. Das bringt meine Behörde an ihre Grenzen. Denn wir brauchen mehr Personal, das es aber aufgrund des anhaltenden Fachkräftemangels nicht gibt. Beim Blick auf die Bürger, die eine schnell agierende Behörde erwarten, und auf meine Mitarbeiter, für die ich eine Fürsorgepflicht habe, stelle ich mir die Frage, welche weiteren Aufgaben wir künftig noch übernehmen sollen und können. Wir sind tatsächlich an einem Punkt höchster Belastung angelangt. Wie haben Sie Kontakt zu den Bürgerinnen und Bürgern gehalten? Ich vertrete die Bürgerinnen und Bürger des Landkreises und möchte für jeden erreichbar sein, der ein Anliegen hat. Die Resonanz aus der Bevölkerung brauche ich, um zu erfahren, was im Landkreis los ist und wo es hakt. Erreichen kann man mich auf verschiedenen Wegen, per Telefon, E-Mail, Brief oder in einem persönlichen Gespräch nach Voranmeldung. Worum ich aber stets bitte, ist ein respektvoller Umgang und Sachlichkeit. Dazu gehört auch, vorher ein konkretes Anliegen zu formulieren. Was tun Sie, wenn jemand Ihre Hilfe braucht? Ich nehme mich der Sache an und schaue, welche Abteilung zuständig ist. Wer eine Sofort-Lösung erwartet, ist bei mir an der falschen Adresse. Ohne die Einschätzung eines Experten fälle ich kein Urteil. Lieber setze ich mich mit den Sachbearbeitern zusammen und lasse mir alles erklären. Das mag Zeit kosten, aber nur so kommen wir zu einer kompetenten Entscheidung, die alle Gesichtspunkte berücksichtigt.
Manch einem könnte das zu lange dauern. Wenn es einmal länger dauert, ist das kein Zeichen von Trägheit, sondern von bedachter Analyse. In der Tat wäge ich ausgiebig ab. Dazu gehört auch, dass ich mich in manche Bereiche mehr einarbeiten muss als in andere. Zum Beispiel bei Baugenehmigungen. Da steht immer auch ein Mensch mit einem Lebensprojekt vor mir und immer dreht es sich um viel Geld. Demgegenüber stehen eine komplexe Rechtslage, komplexe Entscheidungsprozesse und unterschiedliche Behörden, die einzubinden sind. Das Bauamt ist die konfliktreichste Abteilung bei uns im Haus, die auf die meisten Anfragen zu reagieren hat. Es wäre vermessen, würde ich mir hier Urteile ohne Absprache erlauben.
Was halten Sie von der Idee einer Bürgersprechstunde? An dem Thema sind wir dran. Tatsächlich habe ich schon mehrfach öffentliche Begegnungen und Bürgersprechstunden angeboten, das wollen wir weiter ausbauen. Was mich dabei allerdings überrascht hat: Es kamen viel weniger Menschen als erwartet, manchmal konnte man sie an einer Hand abzählen. Ich möchte die Bürgerinnen und Bürger teilhaben lassen und suche den Austausch, aber dafür müssen sie sich – ebenso wie ich – auf den Weg machen. Da sie das aber überwiegend nicht tun, sehen wir uns auch nach alternativen Formen der Partizipation um.
An welche Möglichkeiten der Partizipation denken Sie? Etwa Online-Foren. Man kann zu Hause bleiben und dennoch teilhaben. Das wird auch rege genutzt, viele Bürgerinnen und Bürger bringen sich ein und geben Antworten auf unsere Fragestellungen. Zum Beispiel zum Biosphärenreservat, zum Buslinienbündel oder bei der Entwicklung unseres zukünftigen Leitbildes. Auf Grundlage der gesammelten Stimmen diskutieren wir weiter. Mit der Einrichtung eines Jugendkreistags schaffen wir weitere Partizipationsmöglichkeiten für junge Menschen, denn auch sie brauchen eine hörbare Stimme. Es gibt also bereits Plattformen, auf denen sich Bürgerschaft und Behörde austauschen können. Klar ist aber auch, dass wir noch Luft nach oben haben. Jeder ist eingeladen, daran mitzuwirken. In welchen Bereichen wünschen Sie sich mehr Verständnis? Ich spreche oft von bedarfsorientiertem Handeln, was manche nicht verstehen. Damit meine ich abzuwägen, welche Einrichtungen heutzutage im Landkreis noch sinnvoll sind und welche nicht. Ein Beispiel: Brauchen wir, wie vor 50 Jahren, drei Krankenhäuser im Landkreis? Abgesehen davon, dass uns das Personal für drei Standorte fehlt, ist das Entscheidende an dieser Überlegung, dass wir insgesamt umdenken müssen. Wir müssen unsere Kräfte bündeln, um gemeinsam stärker zu werden. Wir sind ein Landkreis. Welche Vorhaben würden Sie gerne angehen, aber kommen nicht dazu? Öfters hinaus zu den Menschen zu gehen und stärker die klassischen Aufgaben einer Landrätin wahrzunehmen. Ich hätte gerne mehr persönlichen Kontakt. Denn meinem Wesen nach bin ich ein nahbarer Mensch, der die Gemeinschaft sucht. Ich bin zuversichtlich, dass das alles wieder kommen wird. Ich freue mich zum Beispiel schon riesig auf das große Landkreisfest im Mai 2023, die Landrad(t)s-Tour oder persönliche Ehrungen, die ich vornehmen darf. Die Zukunft gehört Main-Spessart, wenn…? Wenn wir noch mehr Strahlkraft erlangen. Längst haben wir alles, was ein attraktiver Standort braucht. Wir sind international, wirtschaftsstark und bieten eine hohe Lebensqualität. Das müssen wir stärker in den Vordergrund rücken und daran arbeiten wir. Trotz aller Krisen und Unwägbarkeiten blicke ich positiv in die Zukunft. Ich bin stolz, Landrätin von Main-Spessart sein zu dürfen, wo so viele engagierte Bürgerinnen und Bürger wohnen. Für jeden von ihnen steht meine Türe offen.
Fotos: Daniel Peter
Sabine Sitter Die 47-jährige Klinische Sozialarbeiterin ist Mitglied der CSU und seit 2020 Landrätin des Landkreises Main-Spessart. Geboren wurde sie in Karlstadt, aufgewachsen ist sie im Saaletal. Sie ist verheiratet und hat zwei Kinder.